Lothar Sauer
Geboren 1930 in Essen, erstes Kind von Dreien eines Kinderarztes. Gutbürgerliche Kindheit in Essen, katholisch und prüde.
Mit 9 Jahren das erste große Bildungserlebnis: Karl May.
Bis ins 14. Jahr etwa 45 Bände geschmökert, damals keine Seltenheit, und einen eigenen Wildwestroman begonnen, der bis zu 150 Seiten gedieh. Guter Schüler, aber unsportlich und ängstlich. Im Jungvolk der Hitlerjugend unauffälliger Mitläufer, wie die meisten.
  In der Quinta das zweite große Bildungserlebnis: Verse aus Wein- hebers "Ode an die Buchstaben" im Sprachlehrbuch der Unterstufe:
  "Dunkles, gruftdunkles U,
samten wie Juninacht;
glockentöniges O, schwingend wie rote Bronze,
Groß und Wuchtiges malt ihr,
Ruh und Ruhende, Not und Tod..."
 
  Lautmalerei, Sprachmusik, toll! Blieb haften für immer.


  Mit 13 Jahren wegen der Bomben aufs Ruhrgebiet ein Internatsjahr in Godesberg – die einzige Zeit, wo er halbwegs ein Junge war.
  Mit 14 durch die Kriegswirren samt der Familie nach Betzdorf an der Sieg verschlagen, wo man dann wohnen blieb.
  Ärmliche Nachkriegsjahre erzogen zu einer Bedürfnislosigkeit, die lebenslang vorhielt.
Auf der "Penne" entstehen erste Gedichte, natürlich mit Reim und Metrum, die er bald sicher beherrscht. Goethes "An den Mond" wird zum dritten großen Bildungserlebnis – nun steht für immer fest, was Lyrik, was Dichtung ist. Und siehe, bald hört man das Echo in den Versen des 15jährigen:
 
  "Samtne, sternbestickte Nacht
wölbt sich überm Schnee,
ferner Welten Silberpracht
funkelt aus der Höh.

Nachtwind regt sich geistergleich
in den kahlen Bäumen,
die schon froh und hoffnungsreich
von dem Frühling träumen ..."
 
    Daneben eher Sprachverspieltes, Parodien, Schüttelreime, Nonsens im Gefolge Christian Mor- gensterns. Aus dem Schulstoff werden nur die "Räuber", Stifters "Sonnenfinsternis ..." und Kleists "Marionettentheater" zum Erlebnis. Der Deutschlehrer war kein Musensohn.
  Dafür aus dem Rundfunk "Draußen vor der Tür", das den 17 Jährigen schier umwarf, und "Das Gesetz" von Thomas Mann. Dazu die gesammelten Gedichte von Freiligrath, die den Krieg per Zufall überlebt hatten. Der Abiturient kannte etwa 40 deutsche Gedichte auswendig, und nicht nur kurze.
  Ab 16 Jahren regelmäßig Gesundheitssport: Leichtathletik, bißchen Fußball. Das Stadion lag vor der Tür. – Noch in der Schulzeit das vierte Bildungserlebnis: Schopenhauer und sein Aufsatz "Über die Weiber", dessen grimmiger Scharfblick bis heute nachwirkt.
  Ab 1950 Studium der Germanistik und Romanistik in Marburg, Tübingen und Bonn, mit fleißigem Weiterschreiben. In Marburg entsteht "Der Psychosophenclub", ein grotesker Kurzroman, den der 20 Jährige zusammen mit einem ehemaligen Mitschüler schreibt, immer abwechselnd jeder das nächste Kapitel. Übersprudelnd von Phantasie, unreif bis zur Albernheit, kann getrost in der Schublade bleiben.
  Wichtigster Gewinn aus dem Studium: Freud und die Psychoanalyse; der Existenzialismus; Kafka; und die "Übungen im Vortrag von Gedichten" eines Dr. Tack in Bonn, wo er zum ersten- mal die "Todesfuge" hört – das vorletzte Bildungserlebnis. Daneben die Abkehr von je- der Art Religion zugunsten eines naturwissenschaftlichen Weltbilds.
  Dann in Bonn, mit 21 Jahren, Niederschrift der Internatserinnerungen aus Godesberg, 1943 - 44, die erst viel später (2000) unter dem Titel "Kitzelkur und Schlangenfraß" erscheinen, ein lebendiges Bild der späten Nazizeit aus der Sicht unbekümmerter Lausbuben:
 
    Poldi war nämlich unser Klassenlehrer und schauerlich streng. Er straffte seine Offiziersgestalt, stieg die Treppen rauf voran und schnauzte furchterregend, wenn mal einer aus der Reihe tanzte. Kam Poldi am Schluß in die Klasse marschiert, so mußte der Türsteher "Achtung!" rufen und wir alle mit einem Knall aus den Bänken springen und strammstehen. Poldi schmetterte dann seine Aktentasche zackig aufs Katheder, fuhr herum und rief: "Heil Hitler! Setzen!"
  Wenn wir dann nicht mit einem Krach wieder saßen, wurde er wütend und schnarrte:
"Ist das Disziplin? Auf!" Und wir mußten wieder aufstehen.
  "Wenn ich jetzt 'setzen' sage," schmetterte Poldi, "dann sitzt im nächsten Augenblick alles, verstanden? – Setzen!" Krach und wir saßen!
  Poldis Lieblingssatz war sprichwörtlich verbreitet und lautete so: "Das ist unjugendlich und unsoldatisch, und ich dulde das nicht, hm!" Dabei stieß er mit dem Zeigefinger böse aufs Pult. (S. 21)
 
  In der Stube, wenn man unter sich war, ging es dann weit jungenhafter zu:  
    Was macht man mit 'nem leeren Spind ? Da sperrt man einen rein! Der Spind war schmal und eng, genau wie ein Sarg, und vorne verschließbar. Luft bekam man durch die Ritzen und Astlöcher der Rückseite.
  Als ersten schleiften Jean und Spinne Tom herbei und stopften ihn, der sich irrsinnig sträubte, unter Pitts Beihilfe in den Spind. Es wurde abgeschlossen und der Spind der Länge nach vorwärts ins Zimmer gekippt; Tom lag drinnen auf dem Bauch, eingekeilt und zu keiner Gegenwehr fähig, und wurde von oben durch Astlöcher mit Stöckchen gepiekst.
  Spinne rührte lange auf ihm rum und stellte sich doof: "Komisch", entdeckte sie, "da is ja jemand drin! Wer kann dat bloß sein?"
  "'n Walfisch", vermutete Pitt. Ich riet eher auf ein Schnabeltier, Hein war für 'ne er- drosselte Ringelnatter, Spitzmaus tippte auf "Upupa epops", Willi hielt 'nen Eisbär für wahrscheinlicher.
  "Gib doch mal dat Stöckchen her!" rief Jean, "ich will mal nachstochern", und stieß so feste hinein, daß Tom von drinnen "aua!" schrie.
  "Sieh mal einer kuck!" staunte Spinne, "jetzt is am Ende unser Tom da drin – wer hätte dat geahnt?"
 
    Mit kaum 23 Jahren schreibt er in Tübingen "Die Chronik des Staates Neulati", eine aben- teuerliche Jungengeschichte um einen Bombenblindgänger in einem unterirdischen Gang aus dem Mittelalter – ein zwar originelleres, aber nicht weniger unglaubhaftes Motiv als die ewige Verbrecherjagd, aus denen die sonstigen Jungenbücher ihre Spannung beziehen. An den zen- tralen Stellen blitzt schon eine Sprachkunst auf, die weit über das Niveau üblicher Jugendbücher hinausgeht:  
    Zum Zeitpunkt der Explosion waren Goggo und Marabu grade an dem Saum der Schonung angelangt, Goggo bog schon das Gezweig beiseite, da riß sie der plötzlich im Talkessel aufbrüllende Donnerschlag herum: Sie sahen, wie der Teich sich hob in eine ungeheure Wassersäule, ein ganzer gelblich-brauner, weißbeschaumter Gasometer aus Teichwasser, eine krachende Fontaine, die die Pappeln überstieg und grollend dann in sich zusammenbrach; sie prallte in die leere Mulde des Teiches zurück und überspülte die Ufer auf zwanzig Meter Breite mit tosender Wasserschicht.
Der Explosionknall kollerte langhallend durch den Engelwald herauf, die Bäume bebten ringsherum, und Goggo befand sich am Boden, ohne zu wissen, wieso.
 
    Erst 1960, nach fünf vergeblichen Versuchen, fand sich ein Verlag dafür, und es gab auch Übersetzungen, ins Holländische (1961) und Französische (1964), sowie zwei deutsche Neu- ausgaben: 1971 als "Gefahr für Neulati" und 1978 als "Die Jungen von Neulati", aber alle ohne großen Erfolg – das Buch enthielt zuviel Gewalt.  
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