François Villon (1431 – nach 1463)
Die Ballade der Gehenkten
 
  ( Grabschrift, die Villon für sich und seine
  Gesellen dichtete, als er mit ihnen zusam-
  men gehenkt werden sollte. )


Ihr Menschenbrüder, welche nach uns lebet,
o habt für uns doch Herzen nicht von Stein!
Wenn ihr uns Ärmsten euer Mitleid gebet,
wird Gott einst umso milder mit euch sein.
Ihr seht uns hier am Strick, fünf, sechs Gefährten:
das Fleisch an uns, das nur zu gut wir nährten,
wird stückweis Rabenfraß und wird verrotten,
zu Staub und Asche wird auch das Gebein.
Es möge niemand unsres Elends spotten,
doch fleht zu Gott, er möge uns verzeihn!


Wenn wir euch "Brüder" heißen, sollt ihr nimmer
uns drum verachten, wenn auch Henkers Hand
den Tod uns brachte. Wisset ihr doch immer:
nicht jeder hat besonnenen Verstand.
Legt Fürbitt' ein, da wir von hinnen schon,
bei der jungfräulichen Maria Sohn,
daß nie versiegen mag sein Quell der Gnaden,
uns rette vor des Höllenblitzes Pein.
Tot sind wir; wolle niemand uns mehr schaden,
doch fleht zu Gott, er möge uns verzeihn!


Es tränkte uns und wusch des Regens Lauge,
die Sonn' hat uns geschwärzt und ausgedorrt,
es höhlten Kräh und Elster uns das Auge
und rupften Bart und Augenbrauen fort.
Zu keiner Stunde kommen wir zur Rast;
bald hier–, bald dorthin, wie's dem Winde paßt,
so schwenkt er uns, und Vögel uns zerpicken
mehr, als ein Fingerhut zerpickt kann sein.
Drum laßt euch nie in unsre Zunft verstricken,
doch fleht zu Gott, er möge uns verzeihn!


Fürst Jesus, der da herrschet über allen,
hilf, daß wir nicht der Höllenmacht verfallen,
ihr wollen wir nichts wert noch schuldig sein.
O Menschen, hier muß aller Spott verhallen,
doch fleht zu Gott, er möge uns verzeihn!
(1987)
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