Leconte de Lisle (1818 – 1894)
Mittag
 
  Der Mittag, der Sommer Herr, hoch überm Lande,
fällt, silbernes Tuch, aus den Höhen des Blaus.
Rings Stille. Die Luft brennt in windloser Lohe,
die Erde liegt unter dem Glutkleid betäubt.

Die Ebne ist endlos, das Feld ohne Schatten,
die Quelle versiegt, wo die Herde noch trank;
der Wald in der Ferne, mit dunkelnden Säumen,
schläft reglos, weit hinten, in lastender Ruh.

Die Felder des Weizens nur, goldene Meere,
sie wogen in Reife, verschmähend den Schlaf;
friedfertige Kinder der heiligen Erde,
so trinken sie furchtlos die Schale des Lichts.

Doch manchmal, gleich Seufzern aus glühender Seele,
erwacht in den trächtigen Ähren ein Drang,
mit raunenden Lauten ein schleppendes Wogen,
das langsam in staubiger Ferne erstirbt.

Hellhäutige Ochsen ruhn unfern im Grase,
die fettschweren Wammen mit Speichel beträuft,
und schauen mit schönen und schläfrigen Augen
dem inneren Traum nach, der nimmer sich schließt.

O Mensch, wenn du freud- oder gramvollen Herzens
um Mittag die gleißenden Felder durchstreifst,
entflieh! Es ist leer, und die Sonne verzehrt dich:
nichts lebt hier mehr, nichts kennt mehr Trauer noch Lust.

Doch wenn du, dem Lachen wie Weinen erstorben,
im Durst nach Vergessen der rastlosen Welt,
der Schmähworte wie der Verzeihungen müde,
willst kosten die höchste, betäubendste Lust,

dann komm! Daß die Sonne dir heiliges Wort spricht;
verzehr dich in ihrer unlöschlichen Glut
und schreite zurück zu den lachhaften Städten,
getaucht siebenfach in das göttliche Nichts.
(1958)
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