Victor Hugo (1802 – 1885)
Worte auf der Düne
 
  Nun da mein Leben gleich der Fackel sinkt
und, was zu tun war, ist getan auf Dauer,
da ich ans Grab schon rühre, das mir winkt,
an Jahren alt und älter noch an Trauer,

da fern am Himmel, den mein Traum erflog,
dem Schattenreich ich seh entgegenziehen
den alten Wirbelsturm und seinen Sog
und soviel schöne Stunden mit ihm fliehen;

nun da ich sag: Heut triumphieren wir,
und morgen ist doch alles schon erlogen,
geh ich gebeugt, gleich einem Grübler, hier
voll Trauer hin am Saum der dunklen Wogen.

Ich sehe über Tal und Hügel hin
und übers ruhelose Wellenschlagen
des Nordwinds Geier gegen Süden ziehn
und unter sich das Vlies der Wolken jagen;

Wind hör ich in der Luft, am Riff das Meer
und dort den Mann, der reife Garben bindet;
ich lausche, und mein Sinnen trennt nicht mehr,
was da nur rauscht und was da Worte findet;

im magren Gras der Düne ausgestreckt,
so lieg ich manchesmal, der Zeit entronnen,
bis man am fernen Himmelsrand entdeckt
des Mondes Augen, finster und versonnen.

Er steigt und wirft den schlafbefangnen Strahl
in Schlünde, Heimlichkeit und Weltraums Dunkel,
und beide starren wir uns an zumal,
ich, der ich leide – er und sein Gefunkel.

Wo sind die Tage hin von ehemals?
Gibt's niemand mehr von denen, die ich kannte?
Glimmt mir im Auge noch ein Rest des Strahls
aus jener Zeit, da es vor Jugend brannte?

Schwand alles hin? Müd bin ich und allein;
ich ruf und kann doch keine Antwort finden;
o Wind, o Meer! Ein Hauch nur soll ich sein,
und ach, gleich einer Welle soll ich schwinden?

Werd ich denn, was ich liebte, nie mehr sehn?
Der Abend sinkt herab in meine Seele.
O Erde, deren Dunst umhüllt die Höhn,
bin ich ein Geist und du des Grabes Höhle?

Trank ich denn Leben, Lust und Hoffnung leer?
Nur warten kann ich noch und flehn und bangen;
ich heb zum Mund die Krüge, aber mehr
als einen Tropfen kann ich nicht erlangen.

Wie doch Erinnrung Reue schaffen kann!
Wie doch am Ende nur die Tränen fließen!
Und wie so kalt fühlst du, o Tod, dich an,
des schwarzer Riegel uns das Tor wird schließen!

So denk ich nach und lausch dem bittren Wind,
der Woge, über die kein Fuß kann fliehen;
der Sommer lacht, und dort am Strande sind
die blauen Disteln schon zu sehn – sie blühen.
(1998)
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